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Die Relativierung des Wunders (1945-1967)


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3. Die Relativierung des Wunders (1945-1967)
Im Anschluss an diese Betrachtung hat es den Anschein, als müsste die Wahrneh- mung einer an eine Volkswirtschaft gekoppelten Bevölkerung unabhängig von dem Konjunkturverlauf des entsprechenden Systems betrachtet werden. Anders könnte
71 Vgl. JöM: Bd. 4. S. 155 und Bd. 3. S. 258. 72 Vgl. JöM: Bd. 4. S. 280.
73 Vgl. JöM: Bd. 4. S. 279.
74 Vgl. JöM: Bd. 4. S. 279.

wohl kaum erklärt werden, weshalb der Eindruck der Gesellschaft von ihrer derzei- tigen Situation nicht annähernd so euphorisch ist, wie er in Anbetracht des enormen Wirtschaftswachstums hätte sein müssen. Es hat sich in der Betrachtung gezeigt, dass auch in Zeiten von Vollbeschäftigung und zehnprozentiger Wachstumsraten große Teile der Gesellschaft nur eingeschränkt von diesen Entwicklungen profitieren, oder diese als individuelles Glück wahrnehmen.
Es lohnt sich also ein zweiter Blick in die turbulenten Jahre nach dem Kriegsende bis in die 60er-Jahre. Dieser soll Klarheit darüber schaffen, warum die prosperierendste Zeit der Bundesrepublik nicht auch die uneingeschränkt glücklichste Zeit war. Es gilt folglich für genau diesen Sachverhalt geeignete Indizien in der Geschichte der Bun- desrepublik Deutschland zu sammeln.
In einem ersten Komplex, der versucht die Mentalität über das kommunikative Ge- dächtnis zu erfassen, muss der unmittelbaren Kriegserfahrung der jungen Republik bedacht werden. Wie bereits geschildert wurde, waren die Ausgangsbedingungen für einen wirtschaftlichen Aufschwung ungünstig. Wie sich später herausstellen soll- te, keinesfalls so schlecht wie anfangs angenommen.75 Trotzdem muss davon ausge- gangen werden, dass das Lebensgefühl der westdeutschen Bevölkerung bis in die frühen 50er-Jahre von Ängsten, Sorgen und einer tiefsitzenden Unsicherheit geprägt war.76 Von einem Glaube an den Aufschwung darf wohl nicht ausgegangen werden, eher noch von einem grundsätzlichen Pessimismus, der aus der jüngsten histori- schen Erfahrung herrührte.77 Nicht nur Kriegserlebnisse, Vertreibung, menschliche und materielle Verluste, Versorgungsmängel und Zukunftsängste dürfen bei dieser Erfassung des kommunikatives Gedächtnisses berücksichtigt werden. Genauso spiel- te der völlige Umbruch des politischen und ökonomischen Systems, das die in der Wahrnehmung der Bundesbürger die guten 30er-Jahre hervorgebracht hatte,78 eine
75 Vgl. vor allem ABELSHAUSER, Werner: WirtschaB in Westdeutschland 1945 ‐ 1948: Rekonstruk^on und Wachstumsbedingungen in der amerikanischen und bri^schen Zone. Stuigart 1975.
76 Vgl. SCHILDT, Axel: GesellschaBliche Entwicklung. In: Bundeszentrale für poli^sche Bildung: Informa^onen zur poli^schen Bildung. Deutschland in den fünfziger Jahren. München 1997.S. 3 ‐ 10, hier: S. 3.
77 Vgl. ANDERSEN. Traum. S. 30.
78 Vgl. JöM: Bd. 3. S. 230. 42 % sind der Meinung im Zeitraum zwischen 1933 und 1939 wäre es Deutschland am besten gegangen.


bedeutende und höchst wahrscheinlich nicht sonderlich motivierende Rolle.79 Dar- über hinaus muss auch die Erfahrung an die wirtschaftlich instabilen Zeiten der Weimarer Republik, die keinen langfristigen Aufschwung kannten, einbezogen wer- den. Nur 7 % der Beteiligten an einer Umfrage im Oktober 1951 hielten die Tage der ersten deutschen Demokratie für eine Zeit in der es Deutschland am besten ging.80 Es verwundert also wenig, dass der zweite demokratischen Versuch nicht uneinge- schränkt optimistisch angenommen wurde. Vielmehr versuchten die Westdeutschen „die Zeit zurückzudrehen und die dreißiger Jahre noch einmal zu durchleben - nur besser.“81 Als Hauptmerkmal der westdeutschen Nachkriegsmentalität kann somit ein „Zurückdrängen in die Normalität“82 wahrgenommen werden, das sich erst am Ende der 50er-Jahre auflöst. Erst dann weicht sie einer pluralistischen, individualisti- schen, stärker konsum- und freizeitorientierten und auch zukunftsfreudigeren Welt- anschauung.83
Eine weitere Einflussgröße, die sich auf das Glück der Gesellschaft niedergeschlagen haben wird, ist der zur Verfügung stehende Wohnraum im Bundesgebiet, der durch die Zerstörung in den Kriegsjahren um insgesamt ca. 20 % - 25 % reduziert wurde. 84Aus einer Umfrage im Juli 1955 geht hervor, dass auch zehn Jahre nach Kriegsende noch nicht alle Mängel ausgebessert werden konnten. So geben 32 % der Befragten an, in ihrer Wohnung gäbe es immer noch größere Schäden oder Zimmer, die instand gesetzt werden müssten.85 Zur gleichen Zeit stand rein statistisch für jeden Bürger ein Wohnraum zur Verfügung. Tatsächlich waren allerdings 1960 immer noch ein


79 Vgl. KÖCHER, Renate: Lebensverhältnisse 1951 ‐ 2001. Ein Rückblick mit Daten des Allensbacher Ins^tuts. In: Sahner, Heinz: Fünfzig Jahre nach Weinheim. Empirische Markt‐ und Sozialforschung gestern, heute, morgen. Baden‐Baden 2002. S. 59 ‐ 74, hier: S. 59.
80 Vgl. JöM: Bd. 3. S. 230.
81 GEPPERT, Dominik: Die Ära Adenauer. 2. Aufl. Darmstadt 2007. S. 84. 82 GEPPERT: Ära. S. 85.
83 Geppert: Ära. S. 86.
84 Vgl. GLATZER, Wolfgang und HAUSER, Richard: Von der Überwindung der Not zur WohlstandsgesellschaB. In: Blüm, Norbert und Zacher, Hans F. [Hrsg.]: 40 Jahre Sozialstaat Bundesrepublik Deutschland. Baden‐Baden 1989. S. 751 ‐ 768, hier: S. 751.
85 JöM: Bd. 2. S. 227.


Sechstel aller Wohnungen mit mehr als einem Haushalt belegt.86 Darüber hinaus machten einen Teil dieser überbelegten Wohnungen sicherlich auch einige der circa drei Millionen staatlich subventionierten Sozialwohnungen aus, die einen bestimm- ten Standard nicht überschreiten durften. Auf diesen mussten auch 1963 noch Teile der 70 % der Arbeiter und Angestellten zurückgreifen, die kein Eigenheim hatten. Dieser Zwang zur Gemeinschaft mit fremden Menschen und die Zuteilung von Wohnraum schlugen sich ebenfalls auf das Befinden der Bundesbürger nieder.87
Zwei weitere Gruppen die lange Zeit auf Grund der Wohnraumsituation verzichten mussten, waren zum einen die Jugendlichen zwischen 14 und 21. Diese waren im Juli 1947 noch überwiegend der Meinung, „dass man in fünf Jahren in Deutschland [we- der] Schuhe [noch] Kleidungsstücke im Laden frei Kaufen kann“88. Dies hatte sich bis 1955 zwar nicht bewahrheitet, jedoch teilte sich bis dahin noch immer die Hälfte der Heranwachsenden und jungen Erwachsenen das Schlafzimmer mit den Eltern bezie- hungsweise einem Elternteil oder den Geschwistern. Viel mehr litt diese Gruppe in den ersten Jahren der 50er jedoch an der hohen Jugendarbeitslosigkeit. Diese war bald überwunden. Verdrängt wurde sich allerdings von der frühen Berufstätigkeit, die der wirtschaftliche Aufschwung nach sich zog. 1960 wurde schließlich ein Gesetz zum Schutz der Jugendlichen zwischen 14 und 18 verabschiedet, dass die Arbeitszeit auf 48 Stunden in der Woche begrenzen sollte. Tatsächlich wurde allerdings weiter- hin weitaus mehr gearbeitet.89
Die zweite Gruppe, die besonders unter der Wohnraumsituation litt, waren die allein bis 1950 fast zehn Millionen nach Westdeutschland gekommenen Flüchtlinge und Vertriebenen, von denen allein 1,5 Millionen aus der SBZ beziehungsweise der DDR kamen. Über diese bestand zu 39 % im Jahr 1950 die Meinung, sie hätten seien noch nicht gut integriert.90 Weitere 42 % der Befragten sagten aus, dass dazu auch in den
86 SCHILDT: Entwicklung. S. 7. 87 SCHILDT: Entwicklung. S. 7. 88 JöM: Bd. 1. S. 141.
89 SCHILDT: Entwicklung. S. 7. 90 JöM: Bd. 1. S. 199.


Gemeinden nicht ausreichend gesorgt werden würde.91 1954 machten Flüchtlinge 20,6 % der westdeutschen Bevölkerung aus.92 Zwei Jahre später bereits 22,6 %.93 Die- se bildeten zwar das erforderliche Arbeitskräftepotential für die rapide ansteigende Volkswirtschaft,94 gleichzeitig waren sie jedoch direkt nach ihrer Ankunft materiell benachteiligt: Sie verfügten über vergleichsweise weniger Besitz, lebten in eher klei- neren Orten, in denen sie sich mit der eingesessenen Bevölkerung arrangieren muss- ten, unter schlechten Wohnbedingungen und ihre Kinder hatten geringere schulische Möglichkeiten.95 Vor diesem Hintergrund aber gehören sie genauso zu denjenigen, über die das Glück der Gesellschaft definiert wurde.
Eine weitere gesellschaftliche Problematik wurde bereits im Kontext der Jugendli- chen, die seit 1960 „nur noch“ 48 Stunden in der Woche arbeiten sollten, erwähnt. Das Problem der vereinnahmenden Arbeitszeit konnte auch nicht durch den Zu- strom an Flüchtlingen, die, wie bereits beschrieben, so zahlreich in die Bundesrepu- blik kamen, gelöst werden. 1955 wurde durchschnittlich 49 Stunden an sechs Tagen in der Woche gearbeitet. Hinzu kamen lange Fahrzeiten des Drittels der Arbeitenden, die zur Gruppe der Berufspendler gezählt wurden, die über eine Stunde zum eigent- lichen Arbeitsplatz unterwegs waren.96 So kommt es, dass die durchschnittliche Frei- zeit pro Tag 1957 bei zwei Stunden und 43 Minuten lag. 1960 waren es neun Minuten mehr. 1961 nochmals zwei Minuten zusätzlich, also schlussendlich zwei Stunden und 56 Minuten.97 Zwar stimmte der mehrheitliche Teil der Bevölkerung mit den Ge- werkschaften überein, die schon lange die 40-Stunden-Woche forderten - im Novem- ber 1952 waren dies 52 %, im April 1955 bereits 61 % der Teilnehmenden einer Al- lensbacher Umfrage -98 eine Umsetzung dieses Vorschlages sollte allerdings nicht vor
91 JöM: Bd. 1. S. 199.
92 JöM: Bd. 1. S. 3.
93 JöM: Bd. 2. S. 3.
94 ANDERSEN: Traum. S. 22.
95 SCHILDT: Entwicklung. S. 6.
96 SCHILDT: Entwicklung. S. 5 & 8. 97 JöM: Bd. 3. S. 387.
98 JöM: Bd. 1. S. 247.


1965 branchenübergreifend durchgesetzt werden. Bis dahin dominierten lange - und für viele wahrscheinlich sehr ermüdende - Arbeitstage, die Mitte der 50er-Jahre durchschnittlich zwischen sechs und sieben Uhr morgens begannen und erst abends, zwölf Stunden später, zwischen sechs und sieben Uhr endeten.99 Der Raum der per- sönlichen Selbstverwirklichung außerhalb der geregelten Arbeit war dem entspre- chend eingeschränkt, was sich ebenfalls auf die Wahrnehmung von Glück eines je- den Einzelnen niederschlägt.
Die langen und physisch anstrengenden Arbeitstage führten gemeinsam mit den Nachholbedürfnissen hinsichtlich häuslicher Gemütlichkeit, insbesondere nach der Trennung der Familien durch die Abwesenheit des Vaters, die zumeist noch nicht lange zurück lag, zu einem „Rückzug ins Private“100. 57 % der Arbeitnehmer äußer- ten in einer Umfrage 1958, sie seien „am Feierabend froh [...], wenn [sie ihre] Ruhe [hätten]. Gute Unterhaltungsmusik oder [eine] Zeitung [sei ihnen] dann das liebste.“101 Aus derselben Umfrage geht darüber hinaus hervor, dass 38 % „am Feier- abend [...] körperlich ziemlich fertig“102 sind. 23 % klagen sogar darüber, dass sie „mit den Nerven runter“103 seien. Daraus erklärt sich die ausgeprägte Häuslichkeit und ein Fokus auf das Beisammensein innerhalb der Familie. Arbeit in Haus und Garten, die Tageszeitung und das Radio waren die präferierten Freizeitbeschäftigun- gen in den 50er-Jahren. Dabei blieben die meisten Familien eher unter sich.104 Diese Erscheinung kann mit einer „Abkehr breiter Schichten vom öffentlichen Leben“105 gleichgesetzt werden, die sich charakteristisch auch darin zeigte, dass ein Desinteres- se an der Politik bestand. Dieses fand seine Bestätigung zusätzlich in der bereits er- wähnten Erinnerung an die erste deutsche, gescheiterte Demokratie. So verwundert es wenig, dass die 50er-Jahre von einer isolierenden Häuslichkeit geprägt sind, die
99 SCHILDT: Entwicklung. S. 9.
100 GEPPERT: Ära. S. 84. Vgl. SCHILDT, Axel: Die Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland bis 1989/90. München 2007. S. 26 und DERS.: Entwicklung. S. 9.
101 JöM: Bd. 3. S. 386.
102 JöM: Bd. 3. S. 386.
103 JöM: Bd. 3. S. 386.
104 SCHILDT: Entwicklung. S. 9. 105 GEPPERT: Ära. S. 85.


aus einem erfahrungsbedingt hohen Sicherheitsbedürfnis resultierte. Diese kritische Phase des sozialen Misstrauens, der Verunsicherung und der „wenig gefestigten de- mokratischen Überzeugung“106 sollte sich erst allmählich am Ende der 50er-Jahre ändern. Bis dahin sollten jedoch auch diese Einstellungen das Glück der Gesellschaft trüben.
Ein weiterer Katalysator dieses Sicherheitsbedürfnisses war, über den gesamten be- trachteten Zeitraum hinweg, die Kulisse der Bedrohung, die der Systemkonflikt zwi- schen Ost und West konstruierte. Annähernd zwei Drittel der Bevölkerung waren im Juli 1947 der Auffassung, die Nachkriegszeit sei in Wirklichkeit nur eine Atempause zwischen dem Zweiten und Dritten Weltkrieg.107 1951 waren noch 29 % dieser Mei- nung. Im Juli 1952, während der erste heiße Krieg des kalten Krieges in Korea statt- fand, machten sich wiederum 40 % der Befragten sorgen, um ein Ende der relativen Friedenszeit in Westdeutschland und den Ausbruch eines weiteren Weltkrieges. 66 % sagten sogar aus, dass sie sich durch Russland bedroht fühlen würden. Diese Mehr- heit verringerte sich auch nach dem Waffenstillstand in Korea im Juli 1953 nur unwe- sentlich. Aus einer Umfrage im Oktober 1954 geht hervor, dass immer noch 64 % Russland als eine Bedrohung wahrnehmen.108 In der zweiten Hälfte der 50er-Jahre geht diese Kriegsangst nur leicht zurück und 1958 fühlen sich nur noch 51 % be- droht.109 Die Verschärfung des Konflikts, die unter anderem den Berliner Mauerbau und die Kubakrise nach sich zieht, führt jedoch dazu, dass auch in den frühen 60er- Jahren noch Angst besteht. 1961 halten 46 % einen Weltkrieg in Zukunft für möglich. 1965, in einer Zeit, die mittlerweile als eine Phase der Entspannungspolitik bezeich- net wird, waren es immer noch 41 %, die diese Meinung teilten und somit zu der un- erwartet negativen Stimmung in der Gesellschaft beitragen.110
Unter diesen weltpolitischen Bedingungen und einem Aufbrechen der Nachkriegs- mentalität während des Übergangs von den 50er auf die 60er-Jahre, fand eine all-
106 KÖCHER: Lebensverhältnisse. S. 69. 107 JöM: Bd. 1. S. 352
108 JöM: Bd. 1. S. 352.
109 JöM: Bd. 3. S. 559.
110 JöM: Bd. 4. S. 419.


mähliche Formierung einer kritischen Öffentlichkeit statt. Dank Entspannungspolitik und atomaren Patt sank die Angst vor dem Dritten Weltkrieg, während die Erinne- rung an den Zweiten Weltkrieg zusehends verblasste. Gleichzeitig verlor der autori- täre Führungsstil der Bundesrepublik in gleichem Maße an Attraktivität, wie bei- spielsweise die gleichberechtigte Ehe und eine Liberalisierung der Kindererziehung an öffentlichem Einverständnis gewannen. Zudem kommt eine insbesondere durch das Fernsehen begünstigte sozio-kulturelle Amerikanisierung am Ende der 50er-Jah- re.111 Auf diese Öffentlichkeit konnte die Mehrheitsregierung unter Konrad Adenauer nicht mehr zählen. Auch wegen dessen von den Wählern nicht akzeptierten Um- gangs mit dem Bau der Mauer in Berlin im August 1961 musste die CDU erstmals im September desselben Jahres eine Koalition mit der FDP eingehen, die sich vor den Wahlen eigentlich gegen Adenauer als Bundeskanzler ausgesprochen hatte.112 Bereits vorher war die Politik des seit bestehen der Bundesrepublik amtierenden Bundes- kanzlers kritisch hinterfragt worden. Im Oktober 1960 zählte gut ein Viertel der Bun- desbürger den so genannten Fernsehstreit, eine Debatte um die Einführung eines der Bundesregierung nahestehenden zweiten Fernsehsenders, zu den Themen, die sie jüngst mit anderen ausführlicher besprochen hätten.113 Die in dieser Kontroverse für die Pressefreiheit sensibilisierte Öffentlichkeit wurde im Herbst 1962 erneut heraus- gefordert. Nachdem die Wochenzeitschrift der „Spiegel“ sich bereits im Vorfeld kri- tisch gegenüber dem westdeutschen Verteidigungsminister Franz Josef Strauß und der gesamten Bundesregierung geäußert hatte, wurde am 10. Oktober ein Artikel veröffentlicht, der, so die Behauptung der Bundesregierung, vermeintlich geheime Informationen preisgegeben hätte. Unter Berufung auf den Vorwurf des Landesver- rats wurden die Redaktionsgebäude und auch Privatwohnungen von Mitarbeitern der Zeitschrift von der Polizei für einen Monat besetzt und durchsucht. Daraufhin protestierten anfangs Schriftstellerinnen und Schriftsteller, denen sich bald Kunst-
111 GEPPERT: Ära. S. 86.
112 Vgl. SCHILDT: Entwicklung. S. 20.
113 JöM: Bd. 3. S. 248. Vgl. BOROWSKY, Peter: Das Ende der „Ära Adenauer“. In: Bundeszentrale für poli^sche Bildung. Informa^onen zur poli^schen Bildung. Zeiten des Wandels. Deutschland 1961 ‐ 1974. München 1998. S. 3 ‐ 10, hier: S. 3.


schaffende, Geistliche, Hochschullehrende, Studierende und die Gewerkschaften an- schlossen. Dieser Protest gegen die Bundesregierung und deren Eingriffe in die Pres- se- und Meinungsfreiheit stürzte die CDU-FDP-Koalition in eine schwere Regie- rungskrise. In dieser zog die FDP ihre Minister aus dem Kabinett zurück, was unter anderem nach sich führte, dass der Bundeskanzler Konrad Adenauer seinen Rück- tritt ankündigen musste.114 In diesen spontanen Protesten, die erstmals von Men- schen ganz unterschiedlicher politischer Richtungen getragen wurden,115 wurde die bisherige Kontinuität der stillen Zustimmung der Bundesbürger zur Bundesregie- rung gebrochen. In der Bundesrepublik Deutschland kann spätestens ab diesem Zeitpunkt nicht mehr von einer verunsicherten Bevölkerung, die ausnahmslos Schutz im heimischen Wohnzimmer sucht, gesprochen werden, sondern von einer kritischen Öffentlichkeit, deren Unmut sicher auch in der gesamtgesellschaftlichen Betrachtung wieder findet.
Ludwig Erhard, der die Regierungsgeschäfte von Konrad Adenauer übernahm, musste sich ebenfalls mit der neuen Diskussionsmentalität der Bundesbürger arran- gieren. Er traf jedoch mit seiner Aussage, die Nachkriegszeit sei zu Ende, was zum Teil als der Versuch wahrgenommen wurde eine Schlussstrich insbesondere unter die NS-Vergangenheit zu ziehen, auf etliche kritische Stimmen. Für diese war gerade diese Vergangenheit aktueller den jemals zuvor. Bereits seit dem Ende der 50er-Jahre wurden auch in der Öffentlichkeit Prozesse gegen Verbrecher aus der Zeit des Natio- nalsozialismus ausgetragen. Besonderes mediales Aufsehen erregte dabei der so ge- nannte Eichmann-Prozess in Jerusalem, bei dem 74 % der Teilnehmenden einer Um- frage aus dem Juni 1961 „auf dem Laufenden“ waren.116 Aus der Frage nach den Eindrücken und Empfindungen zum Eichmann-Prozess aus derselben Umfrage kann ersehen werden, wie groß der Bedarf an Aufarbeitung in den beginnenden 60er-Jah- ren noch war. 72 % der Befragten waren der Meinung „Leute wie Eichmann müssen bestraft werden, ganz egal ob es Soldaten waren oder nicht.“ Auf sich selbst würden
114 Vgl. BOROWSKY: Ende. S. 4. 115 Vgl. BOROWSKY: Ende. S. 4. 116 JöM: Bd. 3. S. 226.


sie diese Meinung jedoch nicht projizieren: 59 % gaben an, dass sie „persönlich nichts damit zu tun gehabt“ haben und „auch nichts mehr davon hören“ möchten. 53 % meinten sogar, „es wäre das beste, wenn man diese Angelegenheit vergessen würde und wenn [die Westdeutschen sich] ausschließlich mit der Gegenwart und der Zu- kunft beschäftigen würden.“117 Zwei Jahre später erregte der Auschwitz-Prozess in Frankfurt am Main ebenfalls ein weites öffentliches Interesse, dessen von der Allge- meinheit als zu milde empfunden Urteile, sogar öffentliche Kritik nach sich zogen. Und auch im Jahr des Erhard‘schen Endes der Nachkriegszeit 1965 bewegte die Dis- kussion um die Verlängerung oder sogar Aufhebung der Verjährungsfrist der Verbre- chen vor 1945 die westdeutsche Bevölkerung.
Die lediglich kurzweilige Verlangsamung des Wirtschaftswachstums und das leichte Ansteigen der Arbeitslosenquote verschoben jedoch augenmerklich das öffentliche Interesse in der Bundesrepublik und entfalteten psychologisch eine geradezu nieder- schmetternde Wirkung.118 Bis 1965 waren bei der Frage nach der wichtigsten Heraus- forderung für Westdeutschland noch zu über 40 % die Wiedervereinigung und die Situation in Berlin genannt worden. Dies änderte sich 1966: Nur noch 31 % stellten die Wiedervereinigung ins Zentrum ihres Interesses. Dem gegenüber standen 46 %, die mittlerweile wirtschaftliche Probleme als wesentlicher betrachteten. Im Jahr dar- auf waren es sogar 62 % der Befragten.119 Diese Entwicklung macht den Zusammen- hang zwischen wirtschaftlichen Wohlbefinden und nationalem Engagement beson- ders deutlich. Es stellt sich dabei heraus, dass je weniger Fragen der Löhne, Preise und der Stabilität des Geldes den Menschen beschäftigen, „um so mehr Aufmerk- samkeit widmen sie dann politischen oder nationalen Anliegen.“120 Hierauf stützt sich auch die These, das Ende der langen Fünfziger Jahre in das Jahr 1966 zu setzen und dabei erst in zweiter Instanz an die Wirtschaftsindikatoren zu koppeln. Der Ver- lust an „ordnungspolitischer Selbstsicherheit und Stabilitätsgewissheit“121 stellt dabei
117 JöM: Bd. 3. S. 226‐229. 118 BORWOSKY: Ende. S. 9. 119 JöM: Bd. 4. S. 387.
120 JöM: Bd. 4. S. 387.
121 ABELSHAUSER: Jahre. S. 75.


den eigentlichen Grund für „die Erschütterung in der Gesellschaft“ 122 dar „und nicht der relativ geringfügige Anstieg der Arbeitslosigkeit.“123

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