Gebärdensprache Grammatische Grundlagen einer sichtbaren Sprache


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Sana09.11.2017
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#19747


  • Gebärdensprache

  • Grammatische Grundlagen einer sichtbaren Sprache

  • Markus Steinbach

  • Uni Frankfurt und Uni Mainz

  • Studium Universale – Universität Leipzig


Gebärdensprache Markus Steinbach

  • Übersicht

  • Was sind Gebärdensprachen?

  • Wie funktionieren Gebärdensprachen?

  • Sind Gebärdensprachen wie Lautsprachen?

  • Was zeigen uns Versprecher und Vergebärdler?

  • Wie lernen Kinder eine Gebärdensprache?

  • Wie werden Gebärdensprachen neuronal repräsentiert?



Gebärdensprache Markus Steinbach

  • Ergebnisse

  • Gebärdensprachen und Lautsprachen verwenden weitgehend

    • dieselben grammatischen Strukturen
    • dieselben psycholinguistischen Prozesse
    • dieselben Gehirnregionen
  • Unterschiede in allen drei Gebieten ergeben sich vor allem aus den verschiedenen Modalitäten der Produktion und Wahrnehmung



Gebärdensprache Markus Steinbach

  • Was sind Gebärdensprachen?

  • Gehörlose Menschen sind nicht taubstumm

  • Gebärdensprachen sind keine Pantomime

  • Gebärdensprache ist nicht international

  • Es gibt viele verschiedene Gebärdensprachen auf der Welt

  • Innerhalb einer Gebärdensprache gibt es auch Dialekte



Gebärdensprache Markus Steinbach

  • Was sind Gebärdensprachen?

  • Gebärdensprachen sind wie Lautsprachen natürliche menschliche Sprachen

  • Gebärdensprachen sind vierdimensionale Sprachen

  • Gebärdensprachen werden mit den Händen, dem Oberkörper und dem Gesicht gebildet

  • Gebärdensprachen werden mit den Augen wahrgenommen



  • Was sind Gebärdensprachen?

  • In Gebärdensprachen kann man über alles reden

  • Gebärdensprachen haben dieselbe grammatische Komplexität wie Lautsprachen

  • Die Deutsche Gebärdensprache (DGS) hat jedoch nicht viel mit dem Deutschen gemein und gleicht eher asiatischen und afrikanischen Sprachen





  • Manuel und Mira

  • Während des Spiels sieht Mira plötzlich zum Feldrand. Dort steht ein anderer Bernhardiner. Mira rennt los. Manuel schreit verzweifelt: „Mira komm zurück!“ Aber Mira hört Manuels Schreie nicht. Alles Schreien hilft nicht, schon sind Mira und der andere Hund am Feldrand verschwunden. Manuel läuft schnell hinterher, aber die beiden sind nicht mehr zu sehen. Manuel bekommt schreckliche Angst.





  • Was sind Gebärdensprachen?

  • Für natürliche Sprachen gibt es demnach zwei



  • Was sind Gebärdensprachen?

  • Gebärdensprachen vereinigen Eigenschaften von flexionsreichen und von flexionsarmen Sprachen in sich



  • Was sind Gebärdensprachen?

  • Ein Beispiel aus dem Deutschen:

  • Es stimmt nicht, dass er mir langsam und konzentriert einen runden Gegenstand gibt

  • Dasselbe Beispiel in DGS:

  • Mimik: konzentriert

  • kopfschütteln

  • 3-GEBLANGSAM-CLRUND-1



  • Wie funktionieren Gebärdensprachen?

  • Gebärden werden innerhalb des Gebärdenraums mithilfe

  • der Hände

  • der Arme

  • des Oberkörpers

  • Gesichts

  • ausgeführt



  • Wie funktionieren Gebärdensprachen?

  • Wörter können in Laute zerlegt werden

  • Gebärden können unter anderem in eine

  • Handform

  • Handstellung

  • Ausführungsstelle

  • Bewegung

  • zerlegt werden



  • Die Grammatik der Hände

  • Gebärdensprachen unterscheiden einfache und komplexe Handformen.

  • Einfache Handformen …

    • werden früher erworben
    • sind universell
    • werden häufiger verwendet
    • werden in Zweihandgebärden verwendet


  • Die Grammatik der Hände

  • Weitere wichtige manuelle Komponenten:

    • Handkonfigurationswechsel: Veränderung der Handform oder Handstellung
    • Sekundäre Bewegung: Bewegung der Finger beim Ausführen der Bewegung
    • Bewegungswiederholung: kurze Wiederholung der Bewegung
    • Einhand- vs. Zweihandgebärden: nicht dominante Hand ist Koartikulator oder Ausführungsstelle


  • Die Grammatik der Hände

  • Minimalpaare in DGS

    • Handform ANFANG vs. FIND
    • Handstellung GEB vs. BESUCH
    • Ausführungsstelle VERGESS vs. HEISS
    • Bewegung ANTRAG vs. ERZIEHUNG


  • Wie funktionieren Gebärdensprachen?

  • Pronomen entsprechen Punkten im Gebärdenraum

  • Verben können an das Subjekt und indirekte Objekt angepasst werden

  • Verben können das direkte Objekt klassifizieren

  • (vgl. Bsp. von vorhin)



  • Wie funktionieren Gebärdensprachen?

  • Die Deutsche Gebärdensprache hat SOV-Stellung, die Amerikanische Gebärdensprache SVO

  • Temporale Information steht am Satzanfang

  • Das Topik steht mit nichtmanueller Markierung am Satzanfang (angehobene Augenbrauen)

  • Grund steht vor Figur: TISCH APFEL LIEGT-AUF

  • Lokale Präpositionen sind Teil der Verbgebärde



  • Wie funktionieren Gebärdensprachen?

  • Aussage-, Frage- und Befehlssätze werden unter anderem mit den Augenbrauen und der Kopfhaltung markiert



  • Wie funktionieren Gebärdensprachen?

  • Viele Nebensätze sind ähnlich wie im Deutschen

  • Redewiedergabe wird durch drehen des Oberkörpers markiert



  • Wie funktionieren Gebärdensprachen?

  • Sind Gebärden ikonisch (bildhaft)?

  • Gebärdensprachen haben im Vergleich zu Lautsprachen ein größeres ikonische Potential

  • Die meisten Gebärden sind trotzdem nicht ikonisch

  • Die Form der meisten Gebärden ist festgelegt

  • Gebärden können wie Wörter systematisch in kleinere Einheiten zerlegt werden



  • Wie funktionieren Gebärdensprachen?

  • Wofür wird das Fingeralphabet verwendet?

  • Für unbekannte Wörter, z.B. Fremdwörter, Fachbegriffe

  • Für Abkürzungen

  • Für Eigennamen nicht bekannter Personen

  • Für Freunde und allgemein bekannte Personen haben Gehörlose einen eigenen Gebärdennamen



  • Wie funktionieren Gebärdensprachen?

  • Politikernamen (Quelle: Die Zeit 37, 2005)



  • Sind Gebärdensprachen wie Lautsprachen?

  • und

  • Gebärden- und Lautsprachen teilen sich viele grundlegende grammatische Eigenschaften

  • Gebärdensprachen haben aber aufgrund der gestisch-visuellen Modalität spezifische Eigenschaften

  • Gebärdensprachen bevorzugen simultane Ausdrucksweisen



  • Sind Gebärdensprachen wie Lautsprachen?

  • Beispiel 1 für die Gemeinsamkeiten und Unterschiede: Grammatikalisierung

  • Inhaltswörter können sich im Laufe der Zeit zu Funktionswörtern (und weiter zu Affixen) entwickeln

    • Weile  weil (kausale Konjunktion)
    • be cause  because
    • to go  going to (Futurmarkierer)
    • anhand, mithilfe, im Vorfeld, …


  • Sind Gebärdensprachen wie Lautsprachen?

  • In Gebärdensprachen lassen sich dieselben Grammatikalisierungsprozesse beobachten:

    • Die kausale Konjunktion geht auf das Nomen GRUND zurück
    • Der Aspektmarkierer geht auf das Adverb FERTIG zurück
    • Der ASL-Futurmarkierer geht auf das Verb GO zurück
    • Pronomen haben sich zu Kongruenzaffixen entwickelt


  • Sind Gebärdensprachen wie Lautsprachen?

  • In Gebärdensprachen gibt es allerdings auch modalitäts-spezifische Grammatikalisierungsprozesse:

    • Gebärdensprachen können im Gegensatz zu Lautsprachen manuelle und nichtmanuelle Gesten grammatikalisieren
    • Zu den manuellen Elementen gehören Fragepartikel, klassifizierende Handformen und manuelle Negation
    • Zu den nichtmanuellen Elementen gehören Fragemarkierung, Topikmarkierung und nichtmanuelle Negation


  • Sind Gebärdensprachen wie Lautsprachen?

  • Beispiel 2 für die Gemeinsamkeiten und Unterschiede: Reduplikation

  • Das Deutsche hat keine grammatische Reduplikation

  • Reduplikation wird in vielen Sprachen benutzt



  • Sind Gebärdensprachen wie Lautsprachen?

  • Reduplikation ist die Wiederholung eines Wortes oder einer Gebärde, um eine bestimmte grammatische Information auszudrücken

  • Dazu gehören Bsp. aus dem Deutschen:

    • Plural: Kind – Kinder, Vater – Väter, …
    • Aspekt: am Arbeiten sein, etwas beladen, …
    • Reziprok: einander helfen, sich schlagen, …
    • Komparativ: groß, größer, am größten


  • Sind Gebärdensprachen wie Lautsprachen?

  • Reduplikation in Lautsprachen

  • a. kurdu („Kind“) – kurdu-kurdu („Kinder“)

  • b. púsa („Katze“) – pus-púsa („Katzen“)



  • Sind Gebärdensprachen wie Lautsprachen?

  • Reduplikation in Gebärdensprachen

  • a. PERSON-PERSON-PERSON („Menschen“)

  • b. ARBEIT-ARBEIT-ARBEIT („die ganze Zeit arbeiten“)

  • c. GEB-GEB („einander geben“)



  • Sind Gebärdensprachen wie Lautsprachen?

  • Gemeinsamkeiten bei der Reduplikation

    • Gebärden- und Lautsprachen nutzen Reduplikation für dieselben Zwecke
    • In Gebärden und Lautsprachen gibt es verschiedene Arten der Reduplikation (z.B. vollständig und partiell)
    • Gebärden- und Lautsprachen haben eine und zwei Wiederholungen bei Reduplikation (wobei in Gebärdensprachen zwei, in Lautsprachen eine der Normalfall ist).


  • Sind Gebärdensprachen wie Lautsprachen?

  • Unterschiede bei der Reduplikation

    • Gebärdensprachen haben Rückwärtsreduplikation
    • Gebärdensprachen haben Seitwärtsreduplikation
    • Gebärdensprachen haben simultane Reduplikation
  • Rückwärtsreduplikation ist in Lautsprachen prinzipiell möglich, existiert aber nicht (Bsp. Maus-suam)

  • Seitswärtsreduplikation und simultane Reduplikation sind in Lautsprachen nicht möglich



  • Was zeigen uns Vergebärdler?

  • Sprachliche Fehlleistungen in Lautsprachen werden Versprecher genannt

  • Entsprechende Fehlleistungen in Gebärdensprachen werden Vergebärdler genannt



  • Was zeigen uns Versprecher und Vergebärdler?

  • Ein Versprecher mit falscher Korrektur

  • Es muss zu schaffen sein, meine Damen und Herren, wenn ich die CDU ansehe, die Repräsentanten dieser Partei, an der Spitze, in den Ländern, in den Kommunen, dann bedarf es nur noch eines [Pause] kleinen [Pause] Sprühens, sozusagen, [Pause] in die gludernde Lot, in die gludernde Flut, dass wir das schaffen können [Pause/erster Applaus] und deswegen – [Pause] in die loderne Flut wenn ich es sagen darf [stärkerer Applaus] – und deswegen, [Pause] meine Damen und Herren, [starker Applaus] …

  • (Edmund Stoiber bei einer Wahlkampfrede)



  • Was zeigen uns Versprecher und Vergebärdler?

  • Die meisten Versprecher folgen klaren linguistischen Prinzipien. Es können zum Beispiel …

    • Laute vertauscht werden mein Kralli putzt
    • Laute zweimal geäußert werden: Stöhnsteuerkarte
    • Wortteile vertauscht werden: mein kollegischer Malaye
    • Wortteile zweimal geäußert werden: da wurde ein Suffix angefixt
    • Redewendungen vermischt werden: ich bin aus allen Socken
    • gefallen


  • Was zeigen uns Versprecher und Vergebärdler?

  • Auch Vergebärdler folgen klaren linguistischen Prinzipien. Es kann zum Beispiel …

    • Eine Handform zweimal verwendet werden


  • Was zeigen uns Versprecher und Vergebärdler?

  • Zweimaliges Verwenden einer Handform

    • In Lautsprachen können Laute vorweggenommen werden:
    • Stöhnsteuerkarte
    • In Gebärdensprachen können Handformen vorweggenommen werden:


  • Was zeigen uns Versprecher und Vergebärdler?

  • Zweimaliges Verwenden einer Handform (Video)



  • Was zeigen uns Versprecher und Vergebärdler?

  • Auch Vergebärdler folgen klaren linguistischen Prinzipien. Es kann zum Beispiel …

    • Dieselbe Ausführungsstelle zweimal verwendet werden


  • Was zeigen uns Versprecher und Vergebärdler?

  • Zweimaliges Verwenden einer Ausführungsstelle

    • In Lautsprachen können Laute beibehalten werden:
    • Ich will Kinder mit mir, … äh, mit dir
    • In Gebärdensprachen können Ausführungsstellen beibehalten werden:


  • Was zeigen uns Versprecher und Vergebärdler?

  • Vergleich zwischen Versprechern und Vergebärdlern: Es treten in etwa dieselben Fehlertypen auf:

  • Lautsprache Gebärdensprache

  • Anpassung an folgendes Element 21% 22%

  • Anpassung an vorheriges Element 18% 22%

  • Ersetzung 22% 22%

  • Vermischung 19% 16%



  • Was zeigen uns Versprecher und Vergebärdler?

  • Unterschiede zeigen sich zunächst bei Korrekturen:

  • In Gebärdensprachen finden die meisten Korrekturen in der Gebärde statt

  • In Lautsprachen finden die meisten Korrekturen nach dem Wort statt: Lautsprache Gebärdensprache

  • Vor dem Wort 0% 7%

  • Im Wort 23% 52%

  • Nach dem Wort 77% 41%



  • Was zeigen uns Versprecher und Vergebärdler?



  • Was zeigen uns Versprecher und Vergebärdler?

  • Hohenberger, Happ und Leuninger (2002) kommen bei einem umfassenden Vergleich von Versprechern und Vergebärdlern zu dem Schluss, dass die grundlegenden Mechanismen der Sprachproduktion modalitätsneutral sind, also bei Laut- und Gebärdensprachen gleich funktioniert.



  • Wie lernen Kinder eine Gebärdensprache?

  • Spracherwerbsstudien kommen zu einem ähnlichen Ergebnis: der Erwerb einer Sprache ist weitgehend modalitätsunabhängig.

    • Hörende Kinder lernen zuerst unmarkierte Laute
    • Gehörlose Kinder lernen zuerst unmarkierte Handformen
    • Hörende Kinder konjugieren Verben systematisch falsch
    • Gehörlose Kinder konjugieren Verben systematisch falsch


  • Wie lernen Kinder eine Gebärdensprache?

  • Ein Unterschied ist, dass gehörlose Kinder sehr selten gehörlose Eltern haben und deshalb einen verzögerten Spracherwerb haben.

    • Nur ca. 10% aller gehörlosen Kinder haben gehörlose Eltern
    • Viele Erzieher/Lehrer können keine Gebärdensprache
    • Viele gehörlose Kinder lernen Gebärdensprache vor allem von anderen gehörlosen Kindern
    • Gehörlose Kinder wachsen normalerweise in einer hörenden Umgebung auf


  • Was zeigen uns Versprecher und Vergebärdler?



  • Wie werden Gebärdensprachen neuronal repräsentiert?

  • Neurolinguistische Studien mit gesunden Sprechern und mit Aphasikern zeigen, dass

    • Gebärden- und Lautsprachen dieselben Sprachzentren verwenden
    • in beiden Modalitäten die linke Gehirn- hälfte zentrale sprachliche Funktionen übernimmt
    • in Gebärdensprachen die rechte Gehirn- hälfte etwas aktiver ist als in Lautsprachen


  • Wie werden Gebärdensprachen neuronal repräsentiert?

  • Bei Gebärdensprachen gibt es spezifische Sprach-störungen, die nicht die allgemeinen motorischen Fähigkeiten betreffen

  • Gebärdensprachen werden zudem in anderen Gehirn-regionen produziert und verarbeitet als Pantomime

  • Die neuronalen Repräsentationen von grundlegenden linguistischen Mechanismen sind modalitätsneutral



  • Ergebnisse

  • Gebärdensprachen und Lautsprachen verwenden weitgehend

    • dieselben grammatischen Strukturen
    • dieselben psycholinguistischen Prozesse
    • dieselben Gehirnregionen
  • Unterschiede in allen drei Gebieten ergeben sich vor allem aus den verschiedenen Modalitäten der Produktion und Wahrnehmung



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