Das Lächeln der Frauen


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Bog'liq
Das Lächeln der Frauen

»Monsieur Chabanais est en rendez-vous«, sagte Madame Petit dann
geschäftig, wenn jemand nach mir fragte. Ab fünf Uhr wurde es endlich
ruhiger in der ansonsten eher umtriebigen Editions Opale, und man kam zu
den eigentlichen Arbeiten. Die Zeit verflog, und wenn ich viel zu tun hatte,
konnte es passieren, daß ich auf die Uhr schaute und es plötzlich kurz vor
neun war. Heute beschloß ich, früher zu gehen. Der Tag hatte mich
angestrengt.
Ich drehte den alten Heizkörper unter dem Fenster ab, packte das
Manuskript von Mademoiselle Mirabeau in meine alte Aktentasche, zog an
dem kleinen messingfarbenen Metallkettchen, das von der dunkelgrünen
Schreibtischlampe herabbaumelte, und löschte das Licht.
»Für heute reicht's«, murmelte ich und zog die Tür von meinem Büro
hinter mir zu. Doch das Ende meines Tages war im großen Plan der
göttlichen Vorsehung wohl noch nicht vorgesehen.
»Verzeihen Sie«, sagte die Stimme, die mir am Nachmittag den letzten
Nerv geraubt hatte. »Können Sie mir wohl sagen, wo ich Monsieur
Chabanais finde?«
Sie stand wie aus dem Boden gewachsen vor mir. Doch es war keine
aufsässige Achtzigjährige, die mich mit ihren verloren geglaubten Briefen
quälte. Eine junge schlanke Frau in dunkelbraunem Wollmantel und
Wildlederstiefeln war die Besitzerin »der Stimme«. Um den Hals hatte sie
nachlässig einen gestrickten Schal geschlungen. Ihre überschulterlangen


Haare flogen auf und glänzten im schwachen Flurlicht wie gesponnenes
Gold, als sie jetzt zögernd einen Schritt auf mich zu machte.
Sie sah mich aus dunklen grünen Augen fragend an.
Es war Donnerstagabend, kurz vor halb sieben, und ich hatte gerade ein
Déjà-vu, das ich im ersten Moment nicht zuordnen konnte.
Ich rührte mich nicht und starrte die Gestalt mit dem dunkelblonden Haar
an wie eine Erscheinung.
»Ich suche Monsieur Chabanais«, sagte sie noch einmal ernsthaft. Und
dann lächelte sie. Es war, als ob ein Sonnenstrahl über den Flur huschte.
»Wissen Sie vielleicht, ob er noch da ist?«
Mein Gott, ich kannte dieses Lächeln! Ich hatte es vor ungefähr
eineinhalb Jahren schon einmal gesehen. Es war dieses unglaublich
bezaubernde Lächeln, mit dem die Geschichte in meinem Roman begann.
Mit den Geschichten ist es so eine Sache. Woher nehmen Autoren ihre
Geschichten? Schlummern sie einfach so in ihnen und werden durch
bestimmte Ereignisse an die Oberfläche geholt? Nehmen die Schreibenden
sie aus der Luft? Folgen sie dem Lebensweg realer Personen?
Was ist wahr, was ist erfunden? Was gab es wirklich und was hat es nie
gegeben? Beeinflußt die Imagination die Wirklichkeit? Oder die
Wirklichkeit die Imagination?
Der Illustrator und Cartoonist David Shrigley hat einmal gesagt: »Wenn
die Leute mich fragen, woher ich meine Ideen habe, sage ich ihnen, daß ich
es nicht weiß. Es ist eine dumme Frage. Denn wenn ich wüßte, woher ich
meine Ideen hätte, wären es nicht mehr meine Ideen. Sie wären die Ideen
eines anderen und ich hätte sie gestohlen. Ideen kommen von nirgendwoher
und sind plötzlich im Kopf. Vielleicht kommen sie von Gott oder von den
dunklen Mächten oder von irgend etwas ganz anderem.«
Meine Theorie ist, daß man die Menschen, die Romane schreiben und
uns etwas erzählen, in drei große Gruppen unterteilen kann.
Die einen schreiben immer nur über sich selbst - manche von ihnen
gehören zu den ganz Großen der Literatur.
Die anderen haben ein beneidenswertes Talent dafür, Geschichten zu
enden. Sie fahren im Zug, schauen aus dem Fenster, und plötzlich haben sie
eine Idee.
Und dann gibt es noch jene, die sozusagen die Impressionisten unter den
Schreibern sind. Ihre Begabung liegt darin, Geschichten zu finden.


Sie gehen mit offenem Blick durch die Welt und pflücken Situationen,
Stimmungen und kleine Szenen wie Kirschen von den Bäumen.
Eine Geste, ein Lächeln, die Art, wie sich jemand die Haare
zurückstreicht oder die Schuhe zubindet. Momentaufnahmen, hinter denen
sich Geschichten verstecken. Bilder, die zu Geschichten werden.
Sie sehen ein Liebespaar an einem lauen Abend durch den Bois de
Boulogne schlendern und überlegen, wo das Leben die beiden hinführen
wird. Sie sitzen im Cafe und beobachten zwei Freundinnen, die sich
angeregt unterhalten. Noch wissen sie nicht, daß bald die eine die andere
mit deren Freund betrügen wird. Sie fragen sich, wohin die Frau mit den
traurigen Augen, die in der Metro sitzt und den Kopf an die Scheibe lehnt,
wohl fährt.
Sie stehen an der Kinokasse und hören zufällig eine unglaublich lustige
Diskussion zwischen der Kartenverkäuferin und einem uralten Ehepaar, das
fragt, ob es eine Studentenermäßigung gibt - besser kann man es nicht
erfinden! Sie sehen das Licht des Vollmonds, das sich wie eine Silberlache
über die Seine ergießt, und ihr Herz füllt sich mit Worten.
Ich weiß nicht, ob es vermessen ist, wenn ich mich als Autor bezeichne.
Immerhin habe ich ja gerade mal einen kleinen Roman geschrieben. Aber
wenn ich es doch tue, so würde ich mich unbedingt jener letzten Kategorie
zuordnen. Auch ich zähle zu den Menschen, die ihre Geschichten finden.
Und so habe ich auch damals die Heldin meines Romans in einem
kleinen Restaurant gefunden.
Ich weiß es noch genau - ich schlenderte an diesem frühlingshaften
Abend allein durch Saint-Germain, die Menschen saßen schon draußen vor
den Restaurants und Cafés, und ging diesmal eine kleine Straße entlang, die
ich sonst selten nehme. Meine damalige Freundin wünschte sich zu ihrem
Geburtstag eine Kette und hatte mir von einem winzigen Schmuckladen der
israelischen Designerin Michal Negrin vorgeschwärmt, der sich in der Rue
Princesse befand. Ich entdeckte den Laden, verließ ihn kurze Zeit später mit
einem nostalgisch verpackten, bunten Päckchen und dann - ohne irgendwie
darauf vorbereitet zu sein - fand ich Sie!
Sie stand hinter der Scheibe eines Restaurants, das die Größe eines
Wohnzimmers hatte, und sprach mit einem Gast, der an einem der kleinen
Holztische mit rot-weiß gewürfelten Decken saß und mir den Rücken
zuwandte. Das sanfte, gelbliche Licht überglänzte ihr langes, in der Mitte


gescheiteltes Haar, und es war dieses bei jeder Bewegung auffliegende
Haar, das mir zuerst ins Auge fiel.
Ich blieb stehen und sog jedes Detail dieser jungen Frau in mich auf. Das
schlichte lange grünliche Kleid aus zartem Seidenstoff, das sie so
selbstverständlich trug wie eine römische Frühlingsgöttin und dessen breite
Träger ihre Schultern und die Arme freiließen. Die Hände mit den langen
Fingern, die sich anmutig bewegten, wenn sie redete.
Ich sah, wie sie sich an den Hals faßte und mit einer Kette aus winzigen
milchig-weißen Perlen spielte, die in einer großen alten Gemme endete.
Und dann schaute sie für einen kurzen Moment auf und lächelte.
Es war dieses Lächeln, das mich verzauberte und mich mit Freude
erfüllte, obwohl es gar nicht mir galt. Ich stand draußen vor der Scheibe wie
ein Voyeur und wagte nicht zu atmen - so vollkommen schien mir dieser
Augenblick.
Dann öffnete sich die Tür des Restaurants, Menschen traten lachend auf
die Straße, der Augenblick war vorbei, das schöne Mädchen drehte sich um
und verschwand, und ich ging weiter.
Ich hatte niemals zuvor und auch später nicht in dem kleinen behaglichen
Restaurant gegessen, dessen Namen ich so poetisch fand, daß ich gar nicht
anders konnte, als meinen Roman dort enden zu lassen - im Le Temps des

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